Gemeinsam Lernen

Ein Gespräch über gute Orte und Begegnung

Vor zehn Jahren, zum Schuljahr 11/12, startete die erste inklusive Klasse an der Betty-Hirsch-Schule. Kinder mit und ohne Sehbeeinträchtigung lernen hier seither gemeinsam. Im Jahr 2022 schließen einige der Schülerinnen und Schüler des ersten Jahrgangs jetzt mit dem Realschulabschluss ab. Peter Greiner war damals der Schulleiter der Betty-Hirsch-Schule. Er hat das inklusive Konzept mit aufgebaut und die erste inklusive Klasse eingeschult. Simone Zaiser ist heute die Leiterin des Betty-Hirsch-Schulzentrums und wird das inklusive Lernen in die Zukunft tragen.

NIKOAktuell: Wie kam es zu dem Entschluss, Kinder ohne Förderbedarf im Bereich Sehen in die Betty-Hirsch-Schule aufzunehmen?

Peter Greiner: Der Gedanke entstand bereits einige Jahre zuvor. Manche Klassen der Betty-Hirsch-Schule waren so klein, dass bei uns der Wunsch aufkam, den Kindern mehr Begegnungen zu ermöglichen. Sie sollten die Gelegenheit haben, Gleichaltrige kennen zu lernen, Peer-Erfahrungen zu teilen. Doch aus schulpolitischen Gründen war eine Aufnahme der Kinder ohne Förderbedarf damals nicht möglich. Der Gedanke wanderte in die Schublade.

NIKOAktuell: Die UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Inklusion als Menschenrecht. Mit ihrer Ratifizierung durch die EU und durch Deutschland kam Bewegung in die Schullandschaft. Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren durften sich öffnen.

Peter Greiner: Wir haben das Glück gehabt, dass Stuttgart Versuchsregion war. Schnell erhielten wir die Möglichkeit, Kinder ohne Förderbedarf aufzunehmen und mit der ersten inklusiven Klasse zu starten. Wir begannen damit, Eltern über unsere Ideen zu informieren, schufen Vertrauen. Eine Schule, die bisher blinde und sehbehinderte Kinder beschult hat, kann die auch eine Grundschule für sehende Kinder sein? Nach wie vor finde ich den Mut und den Pioniergeist der ersten Eltern, die sich darauf eingelassen haben, genial.

NIKOAktuell: Die Eltern hat das Konzept überzeugt und sie haben ihre Kinder angemeldet. Wie waren die ersten Erfahrungen mit den inklusiven Klassen?

Peter Greiner: Die ersten Erfahrungen waren grandios. Es gab viele schöne Begegnungen. Natürlich können wir nicht beeinflussen, welche Kinder sich anfreun- den. Sie finden sich oder auch nicht. Doch wenn sie das tun, darf die Behinderung nicht im Weg stehen. Wir wollten als Schule die Möglichkeiten und die Rahmenbedingungen schaffen, dass Begegnungen entstehen und auf Augenhöhe stattfinden können. Und das ist uns gelungen.

NIKOAktuell: Gibt es einen besonderen Moment, an den Sie sich gerne erinnern?

Peter Greiner: Eine besonders berührendeBegegnung war für mich der erste Elternabend. Wir haben im Kreis gesessen, und die Eltern sollten die Biographie ihres Kindes vorstellen. Die Eltern der Kinder ohne Behinderung berichteten, dass alles ganz normal verlaufen war. Die Eltern der Kinder mit Behinderung berichteten von ihren Sorgen, wie es ist, nicht zu wissen, was mit ihrem Kind wird, wie sich die Sehbeeinträchtigung auswirken wird, welches Leben ihr Kind einmal führen kann. In dem Moment haben die Eltern der Kinder ohne Behinderung wirklich begriffen, worauf sie sich mit der Schulwahl eingelassen haben. So können wir Barrieren in den Köpfen abbauen, wenn wir verstehen: Ich habe bislang gar nicht erfasst, welch Glück es ist, wenn sich ein Kind ohne körperliche Beeinträchtigung einfach so entwickeln kann. Wenn es anderen nicht so geht, versuchen wir doch gemeinsam, uns zu unterstützen. Dieser Elternabend hat in einem Moment bestätigt, wie lohnenswert es ist, eine inklusive Schule aufzubauen.

NIKOAktuell: Die Betty-Hirsch-Schule hat sich bewährt. Heute sind alle Klassen inklusiv, die Nachfrage nach den Plätzen ist groß. Inzwischen ist die Schule Teil des Betty-Hirsch Schulzentrums. Unter dessen Dach lernen ebenso Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung, die zusätzlich weitere Beeinträchtigungen haben – bislang noch räumlich voneinander getrennt. Das neue Gebäude, das gerade am Kräherwald in Stuttgart entsteht, wird alle Schülerinnen und Schüler in einem Haus zusammenbringen und ihnen neue Möglichkeiten eröffnen, ohne Barrieren miteinander lernen zu können. Um den Prozess der Inklusion noch weiter voran-
zubringen. Was zeichnet das pädagogische Konzept damals wie heute aus?

Simone Zaiser: Im Mittelpunkt steht die Förderung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers. Zusätzlich schaffen wir Möglichkeiten, dass die Kinder sich auf vielen verschiedenen Ebenen begegnen können. Kulturelle Projekte, Begegnungen im Sport – all das ist elementar wichtig. Wir brauchen natürlich die akademische Bildung, aber am Ende ist es die Sozialentwicklung, die zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt.

Projekte mit externen Kooperationspartnern wie zum Beispiel den Staatstheatern sind dafür sehr wichtig. „Was, du willst auf der Bühne stehen? Du bist doch blind!“ Solche Vorurteile überwinden wir und finden Möglichkeiten, in denen alle Kinder sich gut erleben und darstellen können. Das macht viel Spaß. Die Kinder lernen Selbstvertrauen und wichtige Kompetenzen für ihr ganzes Leben, wie Kooperationsfähigkeit, sich in Gruppen einzubringen oder Stärken bei sich oder dem Gegenüber zu erkennen.

NIKOAktuell: Was bedeutet inklusiver Unterricht für die Lehrerinnen und Lehrer? Und wie hat sich das Kollegiumdarauf eingelassen?

Simone Zaiser: Für die Kolleginnen und Kollegen ist der Weg zu einer inklusiven Schule selbstverständlich eine große Veränderung. Am Anfang standen ganz profane Fragen, wie zum Beispiel: „Wie bieten wir auch an unserer Schule eine Fahrradprüfung an?“. Das Tempo änderte sich mit dem Start der gut sehenden Kinder – nicht nur beim Rennen auf dem Schulhof. Wir durchlaufen einen umfassenden Schulent- wicklungsprozess, bei dem es nicht nur um inhaltliche und organisatorische Fragestel- lungen geht, sondern ganz besonders auch um die eigene Haltung zum Miteinander auf Augenhöhe. Natürlich haben wir unser Kollegium der Sonderschullehrkräfte auch um weitere Fachkompetenz, zum Beispiel die der Grundschul- und Realschullehrerinnen und -lehrer erweitert. Wir haben weiterhin viele unterschiedliche Bildungsgänge für unsere Schülerinnen und Schüler.

Die Niveaus sind sehr differenziert und so ist die enge Zusammenarbeit sehr wichtig, um allen Schülerinnen und Schülern ein passgenaues Angebot machen zu können. Es ist toll, dieses Miteinander zu erleben. Es ist ein Prozess, der immer weitergeht. Auch für das neue Schulhaus werden wir die Konzepte wieder weiterentwickeln. In den neuen Räumen werden wir ganz neue Möglichkeiten haben. Das Miteinander über alle Klassen fördern zu können und in einen guten Austausch in alltäglichen Begegnungen zu kommen, darauf freuen wir uns.

NIKOAktuell: Inklusion lebt die Nikolauspflege nicht nur im Schulhaus in Stuttgart. Auch der Sonderpädagogische Dienst ist Teil des Betty-Hirsch-Schulzentrums. Er begleitet viele blinde und sehbehinderte Kinder in ihrer Schule am Wohnort.

Peter Greiner: Es ist gut, dass es beide Angebote gibt und Eltern sich entscheiden können. Kinder sind so verschieden. Jedes Kind hat andere Bedarfe, das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Wenn es gelingt, einen guten (Lern-)Ort für sein Kind zu finden, sollte es unabhängig sein, wo dieser Ort liegt.

Für viele unserer Grundschulkinder ist es ein Glück, dass sie in der Betty-Hirsch- Schule sein konnten. Hier konnten sie viel lernen und sich weiterentwickeln. Wenn die Basiskompetenzen stehen, ist es auch gut, zu schauen, wo es für das Kind dann weiter- geht. Das kann im Betty-Hirsch-Schul-zentrum oder am Wohnort sein. Unser Sonderpädagogischer Dienst unterstützt
die Jugendlichen, ihre Eltern und Lehrkräfte dort mit sehr hoher Fachkompetenz.

NIKOAktuell: Wie erleben Sie das? Hat die Öffnung der Betty-Hirsch-Schule für Kinder ohne Sehbeeinträchtigung dazu beigetragen, die Inklusion in die Gesellschaft zu tragen? Und trägt das Konzept weiterhin dazu bei?

Peter Greiner: Wir tragen dazu bei, Unsicherheiten zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung abzubauen. Daran können wir mitwirken.

Simone Zaiser: Durch das gemeinsame Lernen – die gemeinsamen Erfahrungen – werden die Schülerinnen und Schüler ganz sicher ihren Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft leisten können. Mich freut es besonders, dass wir es durch unser Angebot schaffen, dieses Verständnis in die Familien- und Freundeskreise, auch in die Nachbarschaft und die Stadt zu tragen und so den Kreis zu vergrößern.